Ich
habe ein paar Geschichten zu erzählen. Nichts Großartiges,
nur ein paar der Sachen, die mir so passiert sind. In den letzten Jahren.
In den paar Jahren, die ich auf der Welt bin, und die mir und den Leuten,
die ungefähr so alt sind wie ich, manchmal wie die wichtigsten
Jahre vorkommen.
Was mir an den Sachen auffällt, die mir so passieren, ist, dass
es eigentlich eben gerade keine Geschichten sind. Keine Geschichten,
wie Geschichten sein sollten. Mit einem Anfang, vor dem nicht anderes
kommt und mit einem Ende, nach dem dann alles vorbei ist. Was man so
Geschichten nennt und was man sich so durchliest, anhört oder anschaut.
Ein Roman, ein Witz oder ein Fernsehkrimi. Meine Geschichten passieren
eher so nebenbei, zwischendurch bin ich müde und schlafe oder schaue
fern oder verreise – manchmal geht eine solche „echte“ Geschichte erst
weiter, nachdem man ein paar Wochen was ganz anderes gemacht hat. Wahrscheinlich
hört man sich gerade deshalb gerne die erfundenen Geschichten an.
Das ist vielleicht etwas, nach dem man sich sehnt. Ein überraschender
Anfang von irgendetwas, der plötzlich im Leben passiert, dann dieses
Irgendetwas, das einen mal was ganz Neues erleben lässt, und dann
ein Ende, damit das Ganze dann auch bald wieder vorbei ist und vergessen
werden kann. Oder damit man sich wieder seinem Leben zuwenden kann,
das verglichen mit den erfundenen Geschichten geradezu unendlich lang
zu sein scheint.
Conny,
Red Rain und die Windmühlen
Bis
zu einem bestimmten Alter habe ich mich nicht die Bohne für Peter
Gabriel interessiert. Das war für mich einfach irgend so ein Typ,
der irgendwelche Musik machte, die mir bestimmt nicht gefallen würde.
Ich war 15 oder so. Ich hatte meine Musik, das waren ein paar Platten
und Kassetten und das Radio, aus dem ich aufnahm. Mit Peter Gabriel
hatte ich nichts zu tun. Und dann machte ich diese Radtour mit einem
Freund, mit A. A. war ein bisschen ein seltsamer Typ, aber eines Tages
verstand ich mich wohl gut genug mit ihm, um mit ihm im Zug von Bayern
aus nach Hamburg zu fahren und dort radeln zu gehen. Ich kannte ihn,
wie die meisten meiner besten Freunde, weil unsere Eltern sich kannten.
Seine Familie war vor allem klein. Alle waren klein, der Vater, die
Mutter, die beiden Brüder von A. und er selbst. Er selbst aber
nicht so sehr. Am kleinsten war die Mutter. Die ganze Mannschaft war
ständig in den Bergen, Klettern, Wandern, Skitouren gehen und sonstwas.
In der dunklen Wohnung gab es Ölöfen, was ich ziemlich unsinnig
fand. Wir hatten eine Zentralheizung.
Die Eigenschaft von A., die mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben
ist, ist gewissermaßen seine Penetranz. Er kam manchmal zu uns
zu Besuch, wenn ich gerade mit anderen Freunden zugange war. Er setzte
sich dann in eine Ecke und las meine Bravohefte oder meine Disneycomics
– und ließ sich praktisch nicht mehr vertreiben. Er war anders
drauf als zum Beispiel Ali, Jörg oder Arthur; er passte gar nicht
zu uns. Wenn er durch die Terassentür trat, mussten wir praktisch
aufhören zu reden. Wir versuchten auch nicht, ihn zu integrieren,
wir hatten überhaupt nichts von seinem Besuch, wir wollten ihn
gar nicht da haben. Wenn wir weg gehen wollten, wäre er einfach
sitzen geblieben mit den Bravos, und vielleicht gingen wir manchmal
auch einfach und ließen ihn allein.
Eines Sommers allerdings, da verstanden wir uns besser. Möglicherweise
- ich bin jetzt 30 und erinnere mich fast gar nicht mehr – hatten wir
damals schon angefangen, Curling zu spielen. In derselben Mannschaft?
Ich weiß es nicht. Wir waren beide mal bei diesem blöden
Sport dabei gewesen, ich bin früher gegangen als er, ich hatte
genug gefroren und mich genug blamiert. Zum Beispiel, als ich auf meiner
Suche nach einem Mittel, auf dem Eis nicht jedesmal zu erfrieren, Handcreme
ausprobierte. Wie die Enten: Fett. Und zwar eine dicke Schicht davon
auf die Pfoten. Was in dem Moment peinlich war, als wir die andere Mannschaft
per Handschlag begrüßen mussten. Ich glitschte die hingestreckten
Hände ab, es gab blöde Kommentare und meine Fettschicht war
auch runter. Noch ein Spiel mit blauen Fingern am Ende. Jedenfalls hatten
A. und ich jetzt was gemeinsam, es mag das Curling gewesen sein, jedenfalls
fuhren wir mit den Rädern nach Hamburg und fuhren in einem Bogen
über Bremerhaven nach Neustadt am Rübenberge. Es gibt 125
Neustadts in Deutschland, vielleicht noch etwas mehr, und der Rübenberg
lag bei Hannover. In diesem Neustadt lebte eine Freundin meiner Mutter,
Janina, mit der sie zusammen die Schwesternschule in Berlin absolviert
hatte. Meine Mutter würde Janina besuchen und wir würden mit
unseren Rädern dazustoßen und zusammen zurück nach Hause
fahren, A. und ich. Janina war mit einem Mann verheiratet und hatte
eine Tochter, die Conny hieß. Sie lebten in einem verklinkerten
Neubauhaus. Aber soweit waren wir noch nicht, A. und ich. Wir befanden
uns auf großer Fahrt, ich hatte Probleme mit meinem Sattel, mein
Arsch tat weh und es war eins der wichtigsten Themen der Reise, einen
anderen Sattel zu kaufen und darüber zu fachsimpeln. Ich kaufte
einen sehr billigen knallroten dick gepolsterten Sattel, der das Paradies
am Hintern versprach und natürlich in Wirklichkeit total schlecht
war. Hat nur 12 Mark oder so gekostet damals. Was kann man da erwarten.
Damals glaubte ich halt noch, dass es Schnäppchen tatsächlich
gibt. Jedenfalls fuhren wir, ich mit schmerzendem und ermüdetem
Arsch, auf den flachen Fahrradwegen neben flachen Landstraßen.
Ich finde nicht, dass sich Flachland besonders gut zum Radfahren eignet.
Es ist sehr langweilig, wenn man jeden überfahrenen Hasen schon
aus 500 km Entfernung sieht, und außerdem weht einem stets der
Wind entgegen. Deutsche Straßen finde ich sowieso zum Heulen mit
ihren verzinkten Leitplanken und der perfekten Beschilderung. Nein,
das Radfahren habe ich nicht in besonders guter Erinnerung. Dafür
war es schön, abends in Jugenherbergen anzukommen, die anderen
Bewohner und die Schulklassen zu beäugen und sich gut zu fühlen,
weil einem der Hintern wehtat und man also demnach offensichtlich was
geschafft hatte. Wir hatten einen Walkman und kleine Boxen im Gepäck
und hörten damit Musik. A. hatte eine Kassette dabei, auf der sich
auf der einen Seite „So“ von Peter Gabriel befand und auf der anderen
„Brothers in Arms“ von Dire Straits. Dire Straits kannte ich wohl schon
oder war zumindest recht leicht dafür zu begeistern. Es gab dann
noch ein kurzes Gespräch zwischen mir und A.:
Ich: (sinngemäß) Tolle Platte, das Lied ‚Brothers in Arms‘
ist cool.
A.: Hintendrauf ist Peter Gabriel.
Ich: Was ist denn das, ist ja uninteressant.
A.: He Mann, das ist eine meiner besten Platten.
Ich: Aha.
Jedenfalls
ist es entscheidend, dass wir irgendwann ständig diese Kassette
hörten, denn wir näherten uns Neustadt am Rübenberge
und kamen eines Tages bei Conny an. Sie war ein Mädchen mit kurzen
Hosen und blonden Haaren, mit einem richtigen Mädchenzimmer und
dem ganzen Getue und genauso beschäftigt mit ihrer Pubertät
wie wir. Wobei A. ein bisschen cooler war als ich, wie das übrigend
fast alle Männer sind, mit denen ich zusammen Frauen kennen lerne.
Sind immer cool und tun so, als hätten sie es gar nicht nötig
und machen einen auf schon-ewig-mit-der-Frau-befreundet-sein und so.
Macht mir aber nichts, weil ich dagegen mehr so im Dreieck springe und
das kommt auch nicht schlecht an. Mit Conny hingen wir jedenfalls tagelang
herum, wir hörten die Kassette in dem Kellerraum, den A. und ich
bewohnen durften, gingen mit Conny spazieren und eine Weile stand es
ziemlich unentschieden zwischen mir und A.. Ich weiß noch, dass
es um Neustadt am Rübenberge flaches Land, Maisfelder und Windmühlen
gab, und das möchte ich kurz mal so beschreiben, wie ich es heute
noch für absolut bemerkenswert halte.
Also,
Windmühlen. Die stehen ein Stück weg vom Feldweg, dahinter
blauer Himmel. Dann kommen Maisfelder, wie in „Wir machen eine Schnitzeljagd
mit Conny in einem Maisfeld“. Flaches Land unter einem großen
Abendhimmel, vor dem das erste Lied aus der Peter Gabriel-Platte zu
hören ist: Red Rain.
Eine
Mischung aus Liebe, Leben, Melancholie, Spannung und Wettbewerb zwischen
zwei Freunden, nur dass sich daraus noch lange kein Steven-Spielberg-Film
machen lässt, weil es eben viel zu wenig geschichtig dafür
war. Wir waren nur etwa vier Tage mit Conny zusammen, während eines
Spazierganges machten wir mit A.‘ Kamera einen Haufen Fotos von Windmühlen
und von Conny und irgendeine Kleinigkeit passierte wohl noch zwischen
Conny und mir. Zu wenig, um nicht schließlich niedergeschlagen
und wie ein Verlierer im Zug zurück nach Bayern zu hocken. Aber
genug, um bald darauf den vielversprechendsten Briefkontakt mit Conny
aufzunehmen. Ein paar Monate dauerte der mindestens – aber gesehen haben
wir uns nicht mehr. Ich besitze inzwischen selbst eine Kassette genau
wie die, die wir dabei hatten (eine Seite "Brothers in Arms",
andere Seite "So"), und ich höre sie immer noch oft.
Wenn ich großen Abendhimmel sehe oder Wind auf einer flachen Landstraße
spüre, dann fange ich an, das erste Lied der Peter Gabriel-Platte
zu singen.
Conny
ist verheiratet und ihre Mutter ist mit einem Oberarzt weggegangen,
der sie wieder verlassen hat. Aber ich ziehe es vor, das nicht als das
Ende einer Geschichte anzusehen.